Autoritäre Tendenzen und die Rolle der Sozialen Arbeit
Diskussionrunde mit (v.l.) Sozial- und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Maximilian Pichl, Amall Breijawi (FiAM), Diakonie Hessen, Ingo Stange, Netzwerk für demokraische Kultur e.V. in Wurzen, Sachsen.FiAM-Gesamtkonferenz 2025
Unter dem Titel „Herausforderungen für die kirchlich-diakonische Flüchtlings- und Migrationsarbeit in zunehmend antidemokratischen Zeiten“ fand am 25. November 2025 die FiAM-Gesamtkonferenz in Frankfurt am Main statt. Im Mittelpunkt der eintägigen Konferenz stand die zunehmende Bedrohung demokratischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen sowie die Frage, welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf die kirchliche und diakonische Flüchtlings- und Migrationsarbeit haben.
Verantwortung von Kirche und Diakonie

Rund 70 Teilnehmende diskutierten, wie Kirche und Diakonie angesichts wachsender antidemokratischer Tendenzen Verantwortung übernehmen, Mitarbeitende schützen und solidarische Netzwerke stärken können.
Andreas Lipsch begrüßte die Teilnehmenden der Konferenz.Nach einer Begrüßung durch Andreas Lipsch, Leiter des Ressorts Flucht, interkulturelle Arbeit, Migration (FiAM) der Diakonie Hessen und Interkultureller Beauftragter der EKHN, startete die Konferenz mit einem fachlichen Impuls von Prof. Dr. Dr. Maximilian Pichl, der zu den Handlungsmöglichkeiten kritischer Sozialer Arbeit in autoritären Zeiten referierte.
Europa in der Polykirse
In seinem Vortrag nahm Maximilian Pichl, Professor für Recht der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences, die aktuellen politischen Verschiebungen in Europa und die zunehmende Verbreitung autoritärer Diskurse in den Blick sowie die daraus entstehenden Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Ob Klimawandel, Migration oder Energieversorgung – Politik wirke heute vielfach überfordert. Begriffe wie „Kipppunkt“ oder „Polykirse“ beschrieben eine Welt, in der Krisen sich überlagern und politisches Handeln reaktiv bleibt, erläuterte Pichl. Doch soziale Entwicklungen seien nie unumkehrbar, betonte der Wissenschaftler: „Sie lassen sich verändern – aber nicht ohne klare Haltung.“
Umdeutung von Demokratie und Rechtsstaat
Die symbolische Abstimmung von CDU/CSU und AfD im Bundestag markiere eine neue politische Phase. Parallel wachse der Druck, die Migrationspolitik zu verschärfen. Härtere Grenzkontrollen und enthemmte Sprache hätten reale Folgen: Sozialarbeiter berichten von stärker traumatisierten Geflüchteten, die Europa erreichen. „Neurechte Akteure, aber auch Teile der politischen Mitte, verschieben zentrale Begriffe. Aus dem Rechtsstaat als Begrenzung staatlicher Macht werde zunehmend ein ‚Law-and-Order‘-Instrument. Auch Demokratie werde auf Mehrheitswillen reduziert – ein Modell, das eher autoritären Regimen ähnelt als liberalen Demokratien“, so Pichl.
Studien zeigten: Wenn konservative Parteien rechte Diskurse übernehmen, stärkt das nicht die Mitte, sondern die extreme Rechte. Beispiele aus mehreren europäischen Ländern belegen diesen Trend – ebenso wie die Zunahme rechtsextremer Gewalt.
Soziale Arbeit als demokratische Kraft
Pichl zeigte auf, wie unter verschärften politischen Rahmenbedingungen der Druck auf die Soziale Arbeit wächst. Während politische Linien diskutiert werden, stehen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter längst im Zentrum der realen Konflikte.
Sie erleben, wie staatliche Entscheidungen in Lebensläufe einschneiden: bei Geflüchteten, bei Armen, bei Jugendlichen ohne Perspektive. Der Politikwissenschaftler beschrieb drei Aufgaben, die in den kommenden Jahren entscheidend werden könnten:
1. Orte echter Demokratie schaffen
In Anlehnung an historische Vorbilder wie das „Hull House“ in Chicago sollen Räume entstehen, in denen Demokratie praktisch gelebt wird – in Nachbarschaften, Gemeinschaftsprojekten, Beratungsstellen.
2. Ressourcen sichern und politisch einfordern
Angesichts wachsender sozialer Ungleichheit brauche es offensivere Forderungen nach Umverteilung und stabiler Finanzierung sozialer Dienste. „400 Milliarden Euro werden jährlich vererbt – die Hälfte an die reichsten zehn Prozent.“
3. Kritisches Monitoring
Soziale Arbeit verfüge über einzigartiges Wissen aus der täglichen Fallarbeit. Dieses Wissen müsse systematisch dokumentiert und politisch genutzt werden – etwa in Gerichtsverfahren. Ein Beispiel dafür ist ein wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2022 zu Kürzungen in Geflüchtetenunterkünften, das wesentlich durch Sozialarbeit initiiert wurde.
Pichl betonte, dass Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter durch ihre Arbeit unmittelbar zur Verteidigung demokratischer Werte beitragen können.
Fazit: Demokratie als Praxis
Der Vortrag machte deutlich: Demokratie ist kein Selbstläufer. Sie muss aktiv verteidigt und erlebbar gemacht werden. Autoritäre Tendenzen zeigen, dass politische Begriffe, Normen und Institutionen keine Selbstverständlichkeit mehr sind. In diesem Umfeld übernehmen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter eine Schlüsselrolle, weil sie Einblicke in die Lebensrealität vulnerabler Menschen haben und strukturelle Veränderungen sichtbar machen können. „Demokratie ist eine Handlung“, so das Fazit. „Wer sie schützen will, muss eingreifen – auf allen Ebenen, von der Politik bis zur sozialen Praxis.“
Diskussion und Open Space

An den Vortrag schloss sich ein Panel mit offener Diskussion an. Dabei stellte Ingo Stange die Entstehung und Arbeit des Netzwerks für Demokratische Kultur (NDK) in Wurzen vor, einer sächsischen Kleinstadt die in der Vergangenheit von Neonazistrukturen dominiert wurde. Anschaulich berichtete er von der Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements, von Kulturabeit zur Stärkung der Demokratie und von der Notwendigkeit gelingender Netzwerkarbeit. Aus der Idee, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem demokratische Ideen gemeinsam entwickelt und umgesetzt werden können, ist heute ein Kultur- und Bürger:innenzentrum entstanden, das aus der Projektlandschaft Wurzens und des Landkreises Leipzig nicht mehr wegzudenken ist.
Vorstellung der Ideen aus den Kleingruppen

Der Nachmittag bot im Open-Space-Format Raum für Austausch, Reflexion und die Entwicklung gemeinsamer Ideen. In Kleingruppen wurden viele Impulse vom Vormittag aufgegriffen und weiter diskutiert; so z. B. die Frage nach Haltung und Verantwortung der sozialen Arbeit, der Schaffung von Räumen und den Bau von Brücken zur Überwindung sozialer Spaltung. Weitere Themen waren der Aufbau resilienter Strukturen und Solidaritätsnetzwerken gegen Angriffe von rechts. Die Ergebnisse wurden zum Abschluss im Plenum vorgestellt.
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